Reportage: Tessiner Zeitung – Leuchten für die liebe- Wie lange noch?

Das Glühwürmchen verkörpert als Insekt des Jahres die Dramatik des Insektensterbens. Diesem begegnen einige Tessiner Gemeinden mit Massnahmen gegen die Lichtverschmutzung

Im Juli laden Glühwürmchen zum Leuchtspektakel ein. Doch der Bestand der Insektenarten geht dramatisch zurück: Innerhalb von knapp 30 Jahren verschwanden 75 Prozent der Fluginsekten. Ursachen sind die Zerstörung ihres Lebensraums, der Einsatz von Pestiziden und die Lichtverschmutzung. Verschiedene Tessiner Gemeinden haben der Lichtverschmutzung den Kampf angesagt. Das sei begrüssenswert, aber reiche nicht, sagen Kritiker.

Die Wunderwelt der Insekten zerfällt in beängstigender Geschwindigkeit.
Als Botschafterin dieser Entwicklung hat Pro Natura deshalb das Glühwürmchen zum Tier des Jahres erklärt, um an seinem Beispiel auf das Problem aufmerksam zu machen.

Sein Name ist irreführend
Das Glühwürmchen ist kein Wurm, sondern ein Käfer und es glüht auch nicht, sondern verbreitet ein kaltes Leuchten. Deshalb heisst das Tier des Jahres eigentlich korrekt «Grosser Leuchtkäfer». Er ist in der Schweiz die häufigste und auch grösste der vier Leuchtkäferarten, wobei nur das flugunfähige Weibchen leuchtet. Daneben leben hier der «Kurzflügel- Leuchtkäfer», der von allen Arten am wenigsten Licht abgibt, dann der «Kleine Leuchtkäfer» und der «Italienische Leuchtkäfer».
Er ist der kleinste und lebt schweizweit nur im Tessin.

Die Glut der Liebesnacht
Glühwürmchen leuchten mit Hilfe der so genannten Leuchtorgane, die sich an der Bauchseite des Hinterleibes befinden. Langsam fliegen die glühenden Verehrer über Wiesen und Gebüsch, während die flugunfähigen Weibchen auf Gräsern und Blättern mit ihren leuchtenden Unterleibern kokettieren.
Es ist der Hochzeits- und Todestanz zugleich, denn haben sich ein männliches und ein weibliches Glühwürmchen zur Paarung gefunden, ist es auch schnell wieder vorbei. Das Männchen stirbt unmittelbar nach der Paarung, das Weibchen nach seiner Eiablage ebenfalls.

Glühwürmchen – der Schrecken der Schnecken
Nach einem Monat schlüpfen die Larven, die zwei bis drei Jahre lang im Boden leben. Ihre Hauptbeute sind in dieser Zeit Schnecken. Die eher brutalen Jagdmethoden der Larven passen jedoch nicht ins romantische Bild vom Glühwürmchen als feenhaftes Lichtwesen. Wie schwarzbraune Mini-Krokodile pirschen sich die Larven an ihre oft viel grösseren Beutetiere heran, töten die erbeutete Schnecke mit Giftbissen und fressen sie innert eines Tages auf.
Im Sommer des dritten Lebensjahres verpuppen sich die Larven und die erwachsenen Glühwürmchen schlüpfen. Sofort entzünden die Weibchen an einem günstigen Leuchtplatz das Landefeuer für liebeshungrige Männchen und die Paarung beginnt.
Es ist ein Wettlauf mit der Zeit, denn die erwachsenen Tiere fressen nichts mehr und wer sich jetzt nicht paaren kann, stirbt nach rund zwei Wochen ohne Nachkommen.

Bund für Begrenzung der Lichtimmissionen
Doch die Leuchtkäfer sterben nicht nur einen schnellen, natürlichen Tod, sondern sind vor allem durch menschenverursachte Faktoren bedroht: Der schwindende Lebensraum wird für sie und alle anderen Insekten zunehmend zum Problem.
Besonders setzt den Glühwürmchen die durch die Zivilisation verursachte Lichtverschmutzung zu. «Denn vor allem den Larven dient die Dunkelheit» – wie für viele andere Nachttiere – «wie ein Schalter, damit sie aktiv werden», wie es der Wildtierbiologe und Glühwürmchen-Forscher Stefan Ineichen umschreibt.
Doch diese natürliche Dunkelheit wird durch die zunehmenden, menschengeschaffenen Lichtimmissionen verdrängt.

Einschneidender Bundesgerichtsentscheid
Die Lichtemissionen haben in der Schweiz laut Bundesamt für Umwelt (BAFU) in den letzten Jahren um 70 Prozent zugenommen.
Das BAFU stellt in einem Bericht zu den Folgen fest: «Übermässiges künstliches Licht beeinträchtigt nicht nur die natürliche Nachtlandschaft, sondern kann auch das Leben vieler Pflanzen- oder Tierarten und den Menschen erheblich stören.» Und zu den Auswirkungen bei den Tieren: «Zugvögel verlieren ihre Orientierung und Insekten verbrennen an Lichtquellen.» Schlussfolgerung des BAFU: «Der Bund möchte sich deshalb für die Begrenzung des unerwünschten Lichts in der Umwelt einsetzen.»

Tessiner Gemeinde Coldrerio: schweizweiter Pionier
Den weltweiten Kampf gegen die Lichtverschmutzung hat die vor 30 Jahren gegründete Organisation Dark-Sky aufgenommen (www.darksky.org).
Seit 15 Jahren ist diese Umweltorganisation auch im Tessin vertreten.
Mit Erfolg: Als erste Gemeinde in der Schweiz erklärte Coldrerio (Mendrisio) vor 12 Jahren die Empfehlungen des Bundesamts für Umwelt zur Vermeidung von Lichtemissionen als verbindlich.
Die Gemeinde löscht seither um Mitternacht sämtliche Beleuchtungen und Leuchtreklamen, auf Gemeindegebiet sind sogenannte Skybeamer verboten und Glühbirnen werden durch Energiesparlampen ersetzt.
Zudem müssen Aussenbeleuchtungen von Neu- oder Umbauten von der Gemeinde genehmigt werden.

“Warme” LED Lampen helfen
Viele andere Tessiner Gemeinden nahmen sich Coldrerio als Vorbild und verankerten in ihren Gemeindeordnungen ebenfalls entsprechende Vorschläge für einen sparsameren Einsatz von “umweltfreundlichen” Lichtquellen.
Der neue Weltatlas der künstlichen Aufhellung des Nachthimmels zeigt jedoch: Werden alle Aussenleuchten durch neutralweisse LED Lampen ersetzt, wird sich die Lichtverschmutzung in der Schweiz gegenüber 2015 mindestens verdoppeln.
«Aus ökologischer Sicht muss die wärmere Lichtfarbe eingesetzt werden», fordert Stefano Klett.
«Sie streut und blendet weniger und zieht vor allem weniger nachtaktive Tiere an», erklärt der Verantwortliche der Sektion Tessin und Vizepräsident von Dark-Sky Switzerland.

Kanton und Elektrizitätswerke in der Pflicht
Gehandelt hat auch der Kanton.
Er schaltete vor 12 Jahren zusammen mit Dark-Sky eine Internetseite auf (www.ti.ch/troppaluce), auf der die Lichtverschmutzung und deren Folgen thematisiert werden.
Dort heisst es unter anderem: «Installieren Sie Beleuchtungssysteme nicht in natürlichen Umgebungen und begrenzen Sie Streulicht so weit wie möglich, um die natürliche Umgebung zu schützen.» Diese Ratschläge des Kantons haben aber keinen verbindlichen Charakter.
Baubehörden der Gemeinden haben jedoch die Möglichkeit mit der SIA Baunorm einzugreifen (siehe Kästchen).
Auf “Druck” von Dark- Sky haben auch einige Elektrizitätsunternehmen im Tessin gehandelt: Sie setzen seit letztem Jahr auf warme LED-Lampen.

Lugano: grösster Lichtverschmutzer
Trotz erster Erfolge von Dark-Sky Ticino bleibt Stefano Klett skeptisch: «Ich habe den Eindruck, dass im Tessin das Problem viel weniger ernst genommen wird als in der Deutsch- und in der Westschweiz.» Den Beweis dafür liefert die Schweizer Karte der Lichtverschmutzung: So verzeichnet Lugano eine ungleich höhere Lichtverschmutzung als die einwohnermässig viel grösseren Deutschschweizer Städte St. Gallen oder Bern.
Für Stefano Klett ist deshalb klar: «Es braucht im Tessin viel restriktivere Gesetze, um das Problem zu entschärfen.» In der Tat: Während Städte in der Nacht immer mehr leuchten, gehen beim Glühwürmchen und anderen Insekten zusehends die Lichter aus…

Wissenswertes
Petition gegen Insektensterben
Über 165’000 Personen fordern in einer im letzten Dezember übergebenen Petition vom Bundesrat und vom Parlament eine wissenschaftlichen Aufklärung und ein “rasches und konsequentes Handeln” gegen das Insektensterben.
Die Behörden sollen vielfältige Lebensräume fördern und die Lichtverschmutzung reduzieren.
DSS – für die Nacht
Dark-Sky Switzerland (DSS) ist eine Non-Profit Organisation, die sich für einen bewussten Umgang mit Licht im Einklang mit Mensch und Natur einsetzt.
DSS will die biologische Vielfalt und die natürliche Nachtlandschaft erhalten und vor allem die Lichtverschmutzung reduzieren.
Das Faltblatt «Die Nacht braucht ihre Dunkelheit» ist in begrenztem Umfang gratis zu beziehen bei: office@nulldarksky.ch.
Weitere Informationen: www.darksky.ch.
Bundesgerichtsentscheid
Lichtverschmutzung ist die künstliche Aufhellung des Nachthimmels und die störende Auswirkung von Licht auf Mensch und Natur – eine anerkannte Form von Umweltverschmutzung wie etwa Luft- oder Gewässerverschmutzung.
Eine spezifische gesetzliche Regelung für Lichtverschmutzung gibt es in der Schweiz nicht, dafür aber das Umweltschutzgesetz, Empfehlungen des Bundesamtes für Umwelt (BAFU) und einen Entscheid des Bundesgerichts.
Danach werden Hausbesitzer verpflichtet, die Beleuchtung ihrer Gärten ab 22 Uhr auszuschalten.
Zudem kann Lichtverschmutzung mit der Einhaltung der Ingenieurs- und Architekten SIA Baunorm 491 eingeschränkt werde.
Baubehörden haben die Möglichkeit, bei Privatpersonen Beschränkungen anzuordnen.
Anwohner sind beschwerdeberechtigt, wenn sie im Umkreis von bis 100 Metern zu einer störenden Lichtquelle wohnen.

» Tessiner Zeitung: Leuchten für die Liebe – Wie lange noch? (PDF)